22

[92] An der Station hielt ein altertümlicher Landauer; Botho von Thüngen stieg ein. Er hüllte seine Füße in Decken, denn der Abend war kühl, die Fahrt zum Herrenhaus lang. Schnurgerade schnitt die Straße in die tellerflache Mark.

Botho saß starr aufrecht im Wagen und dachte an die bevorstehende Auseinandersetzung mit dem Freiherrn, seinem Großvater, der ihn berufen hatte. Herr von Grunow-Reckenhausen auf Reckenhausen war der Senior der Familie, oberster Schiedsrichter in allen Streitfällen, letzte Instanz. Sein[92] Urteil und Gebot waren so unwidersprechlich wie die des Königs; Söhne, Schwiegersöhne und Enkel zitterten vor ihm.

Die Familie war weitverzweigt; ihre Mitglieder saßen in der Regierung und im Reichstag, waren hohe Offiziere, Gutsherren, Industriemagnaten, Stiftsdamen, Landräte und Gerichtspräsidenten. Der alte Freiherr hatte sich seit Bismarcks Tod vom öffentlichen Leben zurückgezogen.

Schwarz und verfallen stand das Herrenhaus inmitten eines vernachlässigten Parkes. Zwei edle Doggen traten knurrend aus der Eingangshalle, die von offenen Kerzen erleuchtet war. Auch der unwohnliche Saal, in dem Botho und der alte Freiherr beim Abendessen einander gegenüber saßen, war von Kerzen erleuchtet. Alles mutete ein wenig gespenstisch an in dem Hause, die rissigen Tapeten, der gesprungene staubgraue Stuck der Plafonds, der verwelkte Blumenstrauß auf dem Tisch, das Porzellan aus dem achtzehnten Jahrhundert, die beiden Hunde, die zu Füßen des Freiherrn lagen, und nicht zuletzt dieser selbst; sein kleiner Kopf und sein längliches, mageres, boshaftes Gesicht erinnerten an späte Bildnisse des großen Friedrich.

Sie blieben in dem Saal. Der Freiherr setzte sich in einen Lehnstuhl am Kamin. Der eisgraue, schweigsame Diener warf Scheite aufs Feuer, räumte die Tafel ab und verschwand.

»Du gehst also ab Ersten nach Stockholm,« begann der alte Freiherr und wickelte sich ächzend in einen schottischen Schal; »ich habe unserm Gesandten dort geschrieben; sein Vater war Studienkamerad und Korpsbruder von mir, er wird sich deiner annehmen. Wenn du nach Berlin zurückkommst, gib sofort beim Staatssekretär deine Karte ab. Bringe ihm meine Empfehlungen. Er kennt mich gut. Wir sind Anno siebzig zusammen im Feld gestanden.«

Botho räusperte sich. Der alte Freiherr wünschte und erwartete jedoch keine Einrede. Er fuhr fort: »Mit deiner Mutter bin ich übereingekommen, daß wir deine Verlobung[93] in den nächsten Tage offiziell mitteilen. Die Geschichte zieht sich nun schon lang genug hin. Nächsten Winter heiratet ihr. Du kannst von Glück sagen, mein Junge. Sophie Aurore Bevern, abgesehen davon, daß sie dir ein kleines Fürstentum an Landbesitz und eine Million Taler in die Ehe bringt, ist auch eine Schönheit ersten Ranges und ein Weib von Rasse. Sapperment ja; so was verdienst du gar nicht und weißt es auch nicht zu schätzen, scheint mir.«

»Sophie Aurore steht mir unendlich nah; ich liebe sie sehr,« erwiderte Botho befangen.

»Was ziehst du denn dabei für 'n Gesicht wie die Katze, wenns donnert?« ergrimmte der Freiherr. »Solch Lavendelblütengeschwätz will gar nichts heißen. Ob du sie liebst oder nicht liebst, steht nicht zur Debatte, und ich hab dich auch nicht danach gefragt. Fragen könnt ich dich höchstens nach deiner bisherigen Aufführung, und auch da würdest du am besten tun, in sieben Sprachen zu schweigen, wie der selige Schleiermacher gesagt hat. Da hast du dich an so ne Tänzerin gehängt, hast ein Vermögen verplempert, den Zeitpunkt für den Eintritt in die Karriere nahezu verpaßt: schön; versteh ich; das sind Tollheiten, man war auch mal jung; die Hörner müssen abgestoßen werden. Aber das andre, daß du dich in Proletarierkreisen herumtreibst, die Nächte Gott weiß wo verlungerst, Versammlungen der Heilsarmee besuchst, na, das geht denn doch über die Hutschnur. Ich hatte gedacht, ich könnte das lassen, doch du pumpst einem ja die Galle aus der Leber. Was ich wollte, ist: dir die Richtlinie geben und eine klipp und klare Antwort hören.«

»Gut; so antworte ich, daß ich weder nach Stockholm gehen noch Sophie Aurore heiraten kann.«

Den Freiherrn schleuderte es förmlich empor. »Was –? Du–? Wie–?« Er lallte nur.

»Ich bin bereits verheiratet.«

»Du bist ... bereits ... bist bereits ...« Fahlgrün im Gesicht[94] stierte der Greis seinen Enkel an und sank wieder in den Sessel.

»Ich habe ein Mädchen geheiratet, das ich vor drei Jahren verführt habe, die Tochter der Mietsfrau von damals. Wie es so geht: nach einer durchzechten Nacht kam ich stumpfsinnigangeheitert nach Hause; sie war schon auf dem Weg in die Arbeit, sie nähte in einem Modesalon. Da zog ich sie in mein Zimmer. Als sie ein Kind zur Welt brachte, war ich schon längst über alle Berge, hatte sie längst vergessen. Die Eltern verstießen sie, das Kind kam zu fremden Leuten und starb, sie selber fiel von Stufe zu Stufe. Der gewöhnliche Weg. Durch eine unausweichliche Fügung traf ich sie vor zwei Monaten wieder und erfuhr das ganze Elend, das sie durchlitten hatte. Meine Lebensanschauungen hatten sich inzwischen vollkommen geändert, hauptsächlich infolge der Begegnung mit einem ... besondern Menschen; ich tat meine Pflicht. Ich habe alles verscherzt, ich weiß es, meine Zukunft, mein Glück, die Liebe meiner Mutter und meiner Braut, die Vorteile meiner Geburt, die Achtung meiner Standesgenossen, aber ich konnte nicht anders handeln.«

Die ruhige und feste Sprache des jungen Mannes hatte den Freiherrn steinern unbeweglich gemacht. Die buschigen Brauen bewölkten die Augen, der verbissene Mund war eine Höhle zwischen Nase und Kinn. »Soso,« sagte er nach einer Weile mit pfeifender Stimme, »soso. Ein fait accompli; noch dazu eins von so niederträchtiger Art. Soso. Nun, ich habe keine Lust, mich mit einem gottverdammten Narren weiter einzulassen. Man wird die nötigen Schritte tun. Man wird dir die Hilfsquellen abschneiden und dich hinter Schloß und Riegel setzen. Es gibt ja noch Irrenhäuser in Preußen, und man hat noch einiges dreinzureden. Ein Botho Thüngen, der sich in der Gosse wälzt; nettes Spektakel; heulen die Judenblätter nicht bereits Triumph? Na, sie werden schon. Daß wir von heute an geschiedene Leute sind, versteht sich von[95] selbst. Rücksicht erwarte unter keinen Umständen. Leider muß ich dich diese Nacht noch in meinem Hause dulden. Die Pferde sind zu müd für die Fahrt zur Station.«

Botho hatte sich erhoben. Er strich ein paarmal über seine steilen roten Haare. Das von Sommersprossen bedeckte Gesicht war kränklich blaß. »Ich kann ja zu Fuß gehen,« sagte er, hörte aber, daß es regnete, und erschrak bei dem Gedanken an den weiten Weg. Dann sagte er: »Bist du denn deiner Sache so ganz sicher? Bist du denn alles dessen so sicher, was du hast und was du tust und was du sprichst? Ich leugne nicht, daß mich deine Drohungen ängstigen. Ich weiß, du wirst versuchen, sie auszuführen. Meine Überzeugung kann dadurch nicht beeinflußt werden.«

Der Freiherr streckte gebieterisch den Arm gegen die Tür.

In dem Zimmer, das für ihn bereitet war, setzte sich Botho an den Tisch und schrieb beim Licht einer Kerze mit fliegender Hand: »Lieber Wahnschaffe, das Schwere ist getan. Mein Großvater saß so stark, so felsenhaft vor mir; ich empfing sein Verdikt als schlotternder Schwächling. Gefühl, das loderndste, wird Lüge vor diesen Unerschütterlichen, Vorurteile werden Befugnisse, der Druck der Kaste Bestimmung. Dieser Mut, zu existieren! Diese eisernen Stirnen und Seelen! Und ich dagegen! In mir hat unser Geschlecht sein Absurdum gebildet. Verlorener Sohn vom Kopf bis zu den Füßen. Ich las irgendwo von irgendwem, daß er durch seine Ohnmacht Gott überwand. Konnte diese lieblose Landschaft, diese starre, norddeutsche Welt im Widerspiel zu diesem Torquemada des Herkommens etwas andres hervorbringen als einen Hysteriker der Auflehnung wie mich? Meine Kindheit, meine Knabenjugend, meine Jünglingsjahre, das sind aneinandergereihte Zeilen eines herzlosen Traktats über die Kunst, etwas zu gelten, was man nicht ist, und etwas zu erreichen, was der Mühe nicht verlohnt. Ich wußte so wenig von mir selbst wie der Kern in der Nuß etwas von der Nuß weiß. Ich faulenzte[96] und soff und spielte, und machte wie alle um mich her aus der Zeit eine Hure, die mir gefällig sein mußte, oder sie war mir lästig. Man war blind, man war taub, man war fühllos. Aber es ist ein Verbrechen, sehend, hörend und fühlend zu werden. Sophie Aurore begegnete mir; ich lernte lieben, doch ich lernte es mangelhaft, denn ich war ja ein Mensch mit verkrüppelten Sinnen. Da es üblich ist, sich auszutoben, wie der Fachausdruck lautet, bevor man sich mit einem Wesen ewig verbindet, das einem zu heilig sein sollte, um sein Bild und Andenken durch den Sumpf schmutziger Laster zu schleifen, so folgte ich dem Brauch. Aber der im Ungeist waltende Schicksalszwang führte mich in den Bezirk Eva Sorels. Ich erfuhr zum erstenmal, was ein Weib ist und was es bedeuten kann. Ich begriff Sophie, ich fühlte, was ich ihr sein mußte. Da sah ich Sie, Christian. Erinnern Sie sich der Szene, als Sie Eva und den andern die französischen Verse vorlasen? Die Art, wie Sie es taten, zwang mich tagelang, an Sie zu denken. Erinnern Sie sich, wie Sie in Hamburg die silberne Peitsche zerbrachen, mit der Eva Ihren Freund ins Gesicht schlug? Es fiel mir wie Schuppen von den Augen. Ich blieb auf Ihrer Spur, ich ergriff jede Gelegenheit, mich Ihnen zu nähern; Sie merkten es nicht. Als Sie abgereist waren, suchte ich Sie; man sagte mir, Sie seien in Berlin, ich suchte dort, ich fand Sie endlich, und unter welchen Umständen! Mein Gemüt war so übervoll; ich konnte über das, was mich zu Ihnen getrieben hatte, dies ganz Dunkle, unerklärlich Magnetische, weder damals noch später sprechen. Heute mußte es sein, denn das Wort, das ich an Sie richte, gibt mir wieder Kraft. Ich bedarf des Trostes. Ich liebe Sophie Aurore, ich werde sie bis zum letzten Blutstropfen lieben; der Absagebrief, den ich ihr geschrieben habe, war das Bitterste von allem Bittern in meinem unnützen und verfehlten Leben. Sie hat ihn nicht beantwortet. Ich habe ein Schicksal zerbrochen, ein Herz zertreten, aber ein andres Schicksal gerettet, ein[97] andres Herz vor der Verzweiflung bewahrt. Habe ich recht gehandelt? Sich für eine Sache, einen Menschen zu opfern war immer eine inhaltsleere Redensart für mich; seit ich Sie kenne, hat der Gedanke eine Bedeutung, und eine sehr ernste. Ihnen klingt ja das alles fremd und vielleicht sogar unsympathisch; Sie grübeln nicht und geben sich keine Rechenschaft; das ist das Unfaßliche. Dennoch weiß ich keinen andern, den ich besser als mein eignes Gewissen fragen könnte: Habe ich recht gehandelt?«

Quelle:
Jakob Wassermann: Christian Wahnschaffe. Berlin 56-591928, S. 92-98.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Christian Wahnschaffe
Christian Wahnschaffe (2)
Christian Wahnschaffe (2); Roman in Zwei Banden
Christian Wahnschaffe Band 1
Christian Wahnschaffe Band 2
Christian Wahnschaffe: Roman

Buchempfehlung

Wieland, Christoph Martin

Geschichte der Abderiten

Geschichte der Abderiten

Der satirische Roman von Christoph Martin Wieland erscheint 1774 in Fortsetzung in der Zeitschrift »Der Teutsche Merkur«. Wielands Spott zielt auf die kleinbürgerliche Einfalt seiner Zeit. Den Text habe er in einer Stunde des Unmuts geschrieben »wie ich von meinem Mansardenfenster herab die ganze Welt voll Koth und Unrath erblickte und mich an ihr zu rächen entschloß.«

270 Seiten, 9.60 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon